Dieser Satz von meinem Mann geht mir gerade nicht mehr aus dem Kopf, wenn ich über mein Sommerprojekt „Prüfungswissen“ nachdenke. Wir haben uns jedoch gar nicht darüber unterhalten, sondern über ein Projekt seiner Arbeit.
Mein Sommerprojekt „Prüfungswissen“ soll nun sein, die Pädagogikthemen des ersten Jahres nachzuarbeiten und in einer Datei zusammenzufassen. Im neuen Schuljahr kommen neue Anwärter in unser Seminar, die Themen werden sich – mit wechselnden Schwerpunkten – gelegentlich wiederholen. Zusätzlichen brauche ich dann nur noch zu ergänzen. Da ich voraussichtlich zweieinhalb Jahre dabei und aktuell schwanger bin, möchte ich nur sehr ungern mit einem einjährigen Kind den Stoff aus dem gesamten Vorbereitungsdienst für drei Fächer aus unübersichtlichen Ordnern lernen müssen. Also fange ich schon mal an.
Nun beginne ich also, sämtliche Handouts des Seminars zu den Themen zu lesen. Richtig, das hatte ich bisher nicht getan. Denn Wissen ist vor allem wissen, wo es steht.
Es kann also sehr gut sein, dass ich hier gelegentlich diese Thema nochmal aufgreife, um über konkretere Kuriositäten zu schreiben.
Das aktuelle Handout ist überschrieben mit „Unterrichtsstörungen“. Ja, eines der zentralen Themen der Ausbildungen. Lohmann sagt „Störungsfreier Unterricht ist eine didaktische Fiktion.“ Recht hat er. Und deshalb kommt kein Anwärter oder Lehramtsstudent um dieses Thema. Es ist unser täglich Brot.
Vieles in den Seminarthemen klingt sehr modern und ich kann mich gut darauf einlassen. Sätze wie „von schwierigen Situationen statt von schwierigen Schülern zu sprechen öffnet den Blick.“ sprechen mich sehr an. Denn nur durch diese Perspektive komme ich überhaupt auf die Idee, dass auch bei mir ein Teil der Schwierigkeiten liegen kann. Die Situation von allen Seiten oder von oben/außen zu betrachten heißt vor allem, die Schuldzuweisungen auf das Kind/den Jugendlichen zunächst zu unterbrechen, um genauer hinzuschauen, was geschieht. Ein weiterer Satz: „Störungen behinhalten immer eine Mitteilung [und] haben für den Störenden immer einen Sinn.“ Da gehe ich voll mit. Wenn ein Kind stört, dann kann es sein, dass ich es nicht geschafft habe, es abzuholen. Es kann sein, dass es schlecht geschlafen hat oder einen Streit hatte vor Schulbeginn. Dann sagt es durch die Störung vielleicht „Ich bin gerade nicht bereit, mit dir zu gehen.“ Ich konfrontiere das Kind mit etwas (meinem Unterricht), wozu es gerade keinen Zugang findet. Der Schlüssel passt nicht in das Schloss.
In der Uni lernen Lehramtsstudierende: Lernen ist ein aktiver Prozess, der vom Lernenden vollzogen wird. Das macht auch Sinn: wenn ich etwas lernen will, kann das niemand für mich übernehmen! Auch im Seminar kommunizierten meine Seminarleiterinnen zu Beginn etwas wie „Wir bieten Ihnen Themen an und zeigen Ihnen die Tür. Hindurchgehen müssen Sie schon selbst, es ist Ihre Entscheidung.“ Das ist für mich eine faire Ansage, die ich sehr schätze. Die Seminarleitung tut ihr Bestes, um uns vorzubereiten, aber sie sind nicht dafür verantwortlich, wenn ich nicht (ausreichend) lerne, weil ich mich herausnehme. Nun stellt sich mir allerdings die Frage, warum dann ganz im Gegensatz dazu das Zentrum jeder Besuchsreflexion die Frage steht, nach der die „Güte“ meines Unterrichts – also meiner Arbeit – gemessen wird? Diese Frage ist stets „Haben ALLE SchülerInnen den intendierten Lernzuwachs erreicht?“ Warum wird meine „Leistung“ daran gemessen ob ALLE Kinder etwas gelernt haben? Ich kann doch schließlich nur anbieten, lernen müssen sie selbst. Ich will damit keine „gute“ oder „schlechte“ Unterrichtsvorbereitung rechtfertigen, sondern gehe davon aus, dass sich jedeR AnwärterIn sehr genaue Gedanken zu seinen/ihren Stunden macht. Ich sehe hier ein grundsätzliches Paradox und frage mich manchmal, ob das andere KollegInnen auch so sehen. ICH arbeite und bemesse meine „Leistung“ an etwas, worauf ich eigentlich nur wenig Einfluss habe.
Ein weiterer Gedanke dazu: Was würde denn passieren, wenn ich in einer Nachbesprechung etwas äußern würde wie z.B. „Bei dem Kind T. ist gerade sehr viel zu Hause los. Ich habe mich daher dafür entschieden, T. heute in Ruhe zu lassen, denn Mathe ist da gerade nicht dran.“ So eine Aussage scheint mir gewagt vor den PrüferInnen, fast undenkbar. Wäre ich mutig genug dafür?
Und ist es nicht traurig, dass ich für so eine Entscheidung im Sinne des Kindes „Mut“ brauche, um sie vor anderen – meinen AusbilderInnen, PrüferInnen, KollegInnen – zu rechtfertigen, wenn ich doch mit meinem ganzen Sein dahinter stehe?
Weiter werden Ursachen von Unterrichtsstörungen auf drei Ebenen beleuchtet: auf der Ebene der Lernenden, der Lehrenden und im Außen. Bei den Lernenden fallen dann Worte wie „Entwicklungsverzögerungen“. Wann bitte ist ein Kind in seiner Entwicklung verzögert? Wer setzt den Maßstab dafür? Für mich klingt darin mit, dass die Individualität der Kinder irgendwie doch wieder nicht allzu individuell sein darf. Ich sehe hier einen großen Widerspruch zu der pädagogischen Idee, dass jedes Kind sein Temperament, sein Tempo und seinen Charkter hat und dies eine Bereicherung für die Gruppe ist. Dass jedes Kind eigentlich nur in seinem Tempo lernen kann. Doch dafür ist das System wohl nicht ausgelegt.
Ein weiteres Fundstück des Unwohlseins: „familiäre Erziehungsfehler“. Wer beURTEILT das? Wer kategorisiert elterliche Erziehung und steckt sie in Schubladen? Die aufgeführten „problematischen“ Stile suggerieren, es gäbe DEN EINEN Weg es „richtig“ zu machen, für ALLE Kinder passend, damit auch ALLE Kinder wunderbar systemkonform werden.
Quatsch mit Sauce. Ehrlich jetzt.
Wer bin ich – als AnwärterIn, LehrerIn, Mutter, Mensch – dass ich die Erziehung anderer beURTEILE? Und wie schnell wird aus einem BEurteilen ein VERurteilen, auch wenn man es vielleicht nicht ausspricht? Ich will weder BE- noch VERurteilen. Genauso wie ich mich für meine Entscheidungen als Mutter nicht rechtfertigen müssen will. Ich habe mir meistens etwas dabei gedacht. Eltern treffen ihre Entscheidungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach bestem Wissen und Gewissen. Davon bin ich überzeugt. Die Hintergrundgedanken muss ich weder verstehen noch teilen. Meine Ansicht ist dann anders, aber nicht besser. Alles, was diese Formulierung in mir hervorruft, ist ein verstecktes „Liebe Eltern, ihr allein tragt die Schuld daran, dass euer Kind „komisch“ ist.“ Das nenne ich mal eine Basis für konstruktive Elternarbeit.
Warum fällt es uns nur so schwer, die Kinder als sie selbst genau so anzunehmen, wie sie sind? Warum trauen wir Eltern ihrer Aufgabe so wenig zu, dass wir Pädagogen meinen, es nach einigen theoretischen Büchern beURTEILEN zu können? Warum ist die Vielfalt nur in der Theorie wünschenswert, aber in der Praxis eher ein Klotz am Bein, weil der schöne Gleichschrittplan nicht funktioniert? Dafür ist das System wohl nicht ausgelegt…
Hm… Fragen über Fragen. Und nicht zuletzt: Was schreibe ich jetzt in mein „Prüfungswissen“?