Es gibt da so ein Kind, nennen wir es Flups. Name und Geschlecht spielen keine Rolle. Flups ist ein überwiegend ruhiges Kind im Unterricht. Das Zuhören fällt manchmal schwer, genauso wie das Verstehen von Aufgaben, die die Lehrer so stellen. Flups weiß oft nicht recht, was zu tun ist und was erwartet wird. Flups wirkt manchmal verwirrt bei einer direkten Frage oder wird abwehrend und reagiert genervt. Die Augen verbringen mehr Zeit im Heft des Nachbarkindes oder auf dem Schulhof als an der Tafel oder bei den eigenen Aufgaben. Und ich kann es nicht verübeln. Wenn ich an Flups denke, verbinde ich das Kind mit einem Satz, den es so oft gesagt hat, dass ich überzeugt bin es ist ein Glaubenssatz (keine Abwehr): „Ich kann das (eh) nicht!“ Das macht Flups traurig. In den Pausen gerät das Kind oft in Streit mit anderen Kindern. Das macht Flups auch traurig.
Andere LehrerkollegInnen tun sich schwer mit Flups. Ein störendes Kind. Verweigert die Arbeit. Findet nie seine Sachen, obwohl sie im Ranzen sind. Kann nicht mal einen Knoten. Singen ist doof. Malen auch. Ein Kind mit keinen Interessen. Was ist nur los mit Flups? Warum klappt es nicht? Was läuft da schief?
Die allein erziehende Mutter erzählt, dass Flups oft weint wegen der Schule und überzeugt ist, dass kein Lehrer Flups mag. Sie üben zu Hause und machen Hausaufgaben gemeinsam, und Flups versteht die Aufgaben, löst sie und kann sie erklären. Alles klappt. Sie kann es sich nicht erklären.
In der Schule sind selten die Hefte mit den Hausaufgaben da. Arbeitsblätter, die gemeinsam eingeheftet wurden auch nicht. Keiner kann sich das erklären. Am wenigsten Flups. Das Kind ist einfach nur traurig und oft von sich selbst enttäuscht.
EINMAL habe ich Flups leuchten sehen! In meinem Unterricht. Es ging darum, eine Rechnung an der Tafel zu erklären. Flups hat die Ideen so geringfügig anders an die Tafel geschrieben, dass es mir nicht auffiel. In der Klasse jedoch hat es zu heftigen Diskussionen geführt, die anfingen mit „Hä? Das ist falsch!“ Es folgte ein total klasse Gespräch, am Ende war bei etlichen Kindern merklich ein Licht angegangen! Und Flups hat das Gespräch geleitet. Am Ende war Flups 3cm größer und hat gestrahlt. Die Ideen waren richtig, und wichtig, und wertvoll. Für alle.
Unzählige Elterngespräche fanden statt. Mit und ohne Kind. Immer wieder heißt es, zu Hause würde alles klappen. Immer wieder ändert sich nichts. Auch Therapie bei Psychologen und Psychiater fanden statt. Zum Halbjahr wurde von der Klassenlehrerin dringend geraten, dass Flups sich zurückstellen lassen sollte, um einen frischen Start ins neue Schuljahr zu finden. Das ist das Beste für Flups. Das Kind soll sich nicht unnötig quälen. Das will die Mutter nicht. Zum Jahresende müsste Flups nun die Klasse wiederholen. Elterngespräch 174. Am Ende ist die Mutter mit der Wiederholung einverstanden. Einen Tag später will die Mutter per SMS lieber einen Schulwechsel. Das ist besser für Flups als die Wiederholung. Sie will nur das Beste für ihr Kind.
Ich selbst war bei Gespräch 159 dabei und musste der Mutter leider belegen, dass Flups sehr schlechte Noten hat in meinem Fach, dass selten Hausaufgaben auffindbar sind und ich oft Verwirrung im Kindergesicht lese. Unterschriften für Arbeiten sah ich bis dahin keine. Flups war in diesem Gespräch ganz so, wie ich es kenne: zurück gezogen, traurig, verwirrt.
Das Kind selbst kann nicht in Worte fassen, wo das Problem liegt. Wir Erwachsenen können es auch nicht. Also entscheiden die Großen, was für Flups das Beste ist. Auch wenn wir keine Ahnung haben.
Ich frage mich manchmal, warum wir Erwachsenen so viel Zeit und Energie darin investieren, über ein Kind zu reden, wenn es selbst nicht sofort die Worte findet, die wir verstehen. Was wäre passiert, wenn wir stattdessen das Jahr über immer wieder das Gespräch mit Flups gesucht hätten, diesem Kind verschiedene Zugänge zu den eigenen Emotionen und Gedanken und Worten angeboten hätten statt es vom Psychologen zum Psychiater zu schaufeln.
Ob das der Geschichte ein anderes Ende beschert hätte? Ich frage mich, ob Flups jemals aufhören wird zu sagen/denken „Das kann ich (eh) nicht!“…
Flups. Ich mag ihn sooooooo!
Ich auch! Ein tolles Kind! Aber Flups passt nicht ins staubige System.